Carina (C): Fangen wir doch erst mal damit an, dass du dich vorstellst.
Simon (S): Mein Name ist Simon (Name geändert). Ich bin Anfang 30, Student der Musikwissenschaft an der Universität zu Köln und habe schon eine recht lange akademische Laufbahn hinter mir. Ich hatte ursprünglich angefangen Bio- und Nanotechnologie an der Fachhochschule Iserlohn zu studieren, musste dieses Studium aber leider abbrechen. Grund dafür war eine psychische Erkrankung, die bei mir dann auch Ursache für eine Schwerbehinderung wurde. Aufgrund dieser Erkrankung bin ich mit einer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden, die mich bis heute begleitet. Das hat mir das Studium damals leider unmöglich gemacht. Ich habe dann versucht hier in Köln, meiner Heimatstadt, nochmal über ein Chemiestudium meinen Weg zurück in die Naturwissenschaften zu finden, musste dann aber einfach feststellen, dass das mit meiner Vorerkrankung nicht funktioniert hat. Deshalb habe ich dann den kompletten Fachwechsel in den Bereich Musikwissenschaft und Informationsverarbeitung gemacht.
C: Das ist eine sehr deutliche Wendung.
S: Ja, ursprünglich nicht beabsichtigt, aber naja, man muss ja auch leider der eigenen Gesundheit irgendwann Rechnung tragen, man wird ja auch nicht jünger.
C: In welchem Semester bist du denn im Moment?
S: Ich bin jetzt grade im ersten Master-Semester, habe meinen Bachelor abgeschlossen und hoffe, dass das jetzt im Master auch so klappt wie es im Bachelor bisher funktioniert hat.
C: Und was für Hobbys hast du?
S: Ich habe eine Reihe an Hobbys – vor allem kreativer Art. Ich schreibe selber sehr viel, sei es journalistisch oder auch literarisch, aktuell arbeite ich sogar an einer wöchentlich erscheinenden Kolumne. Dazu zeichne ich recht viel und mache Musik. Als wir noch nicht Corona hatten, bin ich auch regelmäßig zum Sport gegangen, aber das fällt momentan leider flach.
C: Warum hast du dich dann letztendlich für die Uni Köln bzw. den Studiengang entschieden?
S: Ursprünglich wollte ich ja gar nicht im Raum Köln studieren. Das hängt mit meiner Biographie zusammen – ich habe Jahre lang in meiner Schulzeit unter Mobbing gelitten und nahezu keine Freunde aus dieser Zeit. Darüber hinaus habe ich mit meiner hier wohnenden Verwandtschaft ein eher schlechtes Verhältnis. Mich hat hier also nichts gehalten, im Gegenteil, ich wollte einfach nur weg. Diese Vorgeschichte ist mitunter auch Grund dafür, weshalb ich meine psychische Beeinträchtigung habe. Und weil mir damals schon bewusst war, dass das noch böse enden könnte, wenn ich nichts unternehme, war der erste Schritt etwas zu studieren, was möglichst weit weg ist. Da passte, dass ich unbedingt in den Bereich Nanotechnologie gehen wollte. Das hat meine Auswahl zwar ordentlich eingeschränkt, weil es zu der Zeit noch nicht so besonders viele Universitäten oder Hochschulen gab, die das angeboten haben. Aber alle waren weit weg – genau richtig. Und naja, so ist es dann eben Iserlohn geworden.
Dass mein Studium vor Ort dann im Endeffekt gescheitert ist, hing mit den Umständen und der Studienfinanzierung zusammen. Das alles hat mich so sehr zurückgeworfen, dass ich letztendlich sogar meine Wohnung dort nicht mehr halten konnte und zurück zu meinen Eltern ziehen musste. Erst nach diesem Schicksalsschlag hat sich meine Erkrankung überhaupt manifestiert und so sehr verschlimmert, dass sie heute als chronisch betrachtet wird. Diese Einschränkung schmerzt mich bis heute. Aber mit meiner Beeinträchtigung und der dadurch entstehenden Zusatzbelastung bleibt mir nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass ich es nicht mehr packe, noch einmal in eine andere Stadt weit weg zu ziehen. Deswegen ist es jetzt in Köln die Universität geworden, also quasi in meiner Heimatstadt, wenn man so will.
C: Ok. Und wieso dann die Musikwissenschaft und Informationsverarbeitung?
S: Die Inklusion in dem Bereich der Naturwissenschaften funktioniert leider mal so überhaupt nicht. Selbst bei einem leichten Fall für Inklusionsmaßnahmen – so haben sie mich damals genannt. Das kommt mir heute wie blanker Hohn vor. Wegen meiner Erkrankung habe ich nun einmal besondere Bedürfnisse an Arbeitszeiten, bin weniger belastbar und habe mit der Notwendigkeit zu kämpfen, dass ich mehr Regenerationszeit brauche, als gesunde Menschen. Man sollte meinen, dass sich so was schon regeln ließe. Aber weit gefehlt, zumindest was die Naturwissenschaften angeht. Alleine, die notwendigen Härtefallregelungen zur Teilnahme an Klausuren durchzusetzen hat mich mehr als 3 Semester gekostet. Und bei den Laborpraktika sah man überhaupt keine Möglichkeit, es in irgendeiner Weise zu flexibilisieren. Dass selbst so etwas Simples nicht funktioniert, finde ich schon erbärmlich und einer angeblich inklusiven Universität unwürdig. Vogel friss oder stirb!
Dass es jetzt letztendlich Musikwissenschaft geworden ist, hängt vor allem damit zusammen, dass ich wegen dieser Umstände eines Tages vor die Wahl gestellt wurde: Fachbereichswechsel oder Abschiebung in eine Behindertenwerkstatt für den Rest meines Lebens, womöglich sogar Frührente. Tja, letztendlich war es eine Entscheidung aus der Not heraus. Ich hatte im Endeffekt keine bessere Alternative und musste etwas finden, was einigermaßen noch meinen Fähigkeiten entspricht. Da lag etwas im kreativen Bereich auf der Hand und gerade auch Musik, da ich sowieso früher schon sehr aktiv im musikalischen Bereich gewesen bin.
C: Und war es eine gute Entscheidung?
S: Naja, ich muss sagen, es ist nicht mein Traumstudium. Durch die Informationsverarbeitung habe ich mich mehr durchgekämpft als dass ich wirklich Freude daran hatte. Zumindest habe ich jetzt am Ende einen Bachelor-Abschluss, also es ist besser als nichts. Und seien wir ehrlich, wenn ich die Wahl habe zwischen Studium oder Erwerbsunfähigkeit, dann ist das Studium einfach die erste Wahl, egal welches Fach es dann ist.
C: Hast du dann, als du zu den Musikwissenschaften gewechselt bist, auch einen Härtefallantrag gestellt oder hat das einfach so geklappt?
S: Ich habe es parallel gemacht. Ich habe sowohl den normalen Antrag gestellt als auch den Härtefallantrag. Der Härtefallantrag selbst ist dann wegen formeller Bedingungen gescheitert, warum auch immer, das weiß ich bis heute nicht. Zum Glück war meine Abiturnote gut genug, um trotzdem einen Platz zu kriegen. Das hat mir viel Ärger und ein Jahr Hartz4 erspart. Die Alternative wäre gewesen, zurück in die Arbeitsunfähigkeit abgeschoben zu werden, wo ich damals nach Iserlohn schon fast 2 Jahre drin versauert bin. Und ganz ehrlich: Wenn man als behinderte Person einmal da drin gelandet ist, egal, ob man körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt ist, dann ist das eigentlich ein Fass ohne Boden, wo man so gut wie gar nicht mehr rauskommt. Ich habe es einmal geschafft, aber ob es mir ein zweites Mal gelungen wäre, wage ich stark zu bezweifeln.
C: Wir sprechen schon eine Weile über deine Beeinträchtigung. Was ist denn genau deine Beeinträchtigung und wie schränkt dich das im Studienalltag ein?
S: Also, die ursprüngliche Diagnose, die ich hatte, lautete: „Schizoide Persönlichkeitsstörung“. Inzwischen hat die sich erweitert auf den Bereich fast aller Persönlichkeitsstörungen: Borderline, Angststörung, Dissozialität… da war schon vieles dabei. Manchmal kommt es mir vor, wie ein buntes Menü, das sich jeder Facharzt selbst zusammenstellt. Die aktuell gültige Diagnose ist die „gemischte Persönlichkeitsstörung“.
Nun, wie beeinträchtigt mich das? Eigentlich in vielerlei Hinsicht. Wie gesagt bin ich z.B. nicht so leistungsfähig wie ein „normaler“ Mensch in meinem Alter wäre. Ich leide unter starken Konzentrationsschwierigkeiten, unter chronischen Schlafstörungen, habe immer wieder mit teilweise auch körperlichen Einschränkungen zu kämpfen. Ich habe ein hohes Ruhebedürfnis und bin stark anfällig für äußere Belastungen. Ich werde zum Beispiel je nach Spannungs- oder Stresslage stark lichtempfindlich. Das führt dazu, dass ich teilweise selbst in geschlossenen Räumen nur noch mit Sonnenbrille sitzen kann. Ich hatte das tatsächlich auch schon, dass sogar blinde Flecke bei mir im Gesichtsfeld auftauchen, ich also gar nicht mehr so wahrnehmen kann, was um mich herum ist. Damit einher gehen natürlich auch höhere Sensibilitätsschwellen, wenn es um andere Wahrnehmungsfähigkeiten geht, wie z.B. das Gehör, Tastsinn usw.. Wenn da plötzlich einer deiner Sinne weg ist, ist das nie schön… Normal gesunde Menschen kennen das vielleicht, wenn ihnen mal der Fuß oder die Hand einschläft. Jetzt stelle man sich das nur über einen ganzen Tag hinweg vor. Ist nicht so angenehm.
C: Das glaube ich dir.
S: Ich habe auch schon einige Male Hörstürze hinter mich bringen müssen und versuchen müssen, da wieder irgendwie rauszukommen.
Ich persönlich habe darüber hinaus auch große Defizite darin, die Bedürfnisse meines eigenen Körpers wahrzunehmen, wie z.B. Essen, Trinken, Müdigkeit oder so. In der Regel merke ich das dann nur, wenn es zu spät ist und die Migräne mich bereits ans Bett fesseln will, weil ich wieder vergessen habe, mir den Wecker dazu zu stellen. Deshalb habe ich mir angewöhnt, auch immer eine Wasserflasche in jedem Raum griffbereit stehen zu haben, damit ich daran denke, regelmäßig was zu trinken. Man merkt eigentlich, dass es so in alle Lebensbereiche reingeht.
C: Das macht das Studieren wahrscheinlich auch nicht einfacher, oder?
S: Nee, ganz im Gegenteil. Ich hatte ursprünglich die Hoffnung, dass ich wenigstens in der Musikwissenschaft an einer anderen Fakultät mein Studium in Regelstudienzeit schaffen würde.
Das ist ein bisschen ernüchternd, wenn dann irgendwann da auf dem Transkript of Records steht: 10. Hochschulsemester, 15. Hochschulsemester. Inzwischen bin ich, glaube ich, wenn ich alle Studiengänge richtig zusammenrechne im 23sten.
Eigentlich hatte ich mir meine akademische Laufbahn etwas kürzer und auch erfolgreicher vorgestellt…
C: Wie gehst du denn im Studienalltag mit deiner Beeinträchtigung um? Erzählst du das überhaupt irgendwem?
S: Ich habe mir angewöhnt, es mir so gut es geht nicht anmerken zu lassen. Von allen Dozierenden in der Musikwissenschaft wissen, glaube ich, insgesamt nur 2, dass ich diese Beeinträchtigung überhaupt habe. Von meinen Kommilitonen wissen es nur die allerengsten Freunde. Das liegt daran, dass ich einfach in den Studiengängen davor zu schlechte Erfahrungen damit gemacht habe.
Wenn man mit so einer Beeinträchtigung kommt, egal, ob man sie sieht oder nicht, dann wird man automatisch abgestempelt als derjenige, der anders ist, derjenige, der es halt nicht bringt oder derjenige, der irgendwelche Sonderkonditionen rausschlagen möchte. Gerade auch in meinem Fall; ich trete ja rein optisch als ein relativ normal gesunder Mensch auf. Da ist dann häufig Unverständnis, manchmal auch Neid oder Aggression mit verbunden. Das hat mich auch die eine oder andere Freundschaft gekostet.
C: Das ist ja echt blöd.
S: Ja, ich finde es auch sehr ärgerlich, dass man immer noch so stigmatisiert wird, dass vor allem auch das Thema „chronische Erkrankung“ und „Behinderung“ immer noch so ausgeklammert wird. Ich habe inzwischen das Gefühl, Inklusion in Deutschland bedeutet, dass der Rollstuhlfahrer laufen lernt und nicht, dass die Gesellschaft sich den Schwächsten anpasst. Wir schreiben uns immer die Menschenrechte und Inklusion auf alle Papiere und Fahnen. Politiker, Institutionen und Arbeitgeber werben damit, als wäre das der neue Trend. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, dann sind wir hier nicht besser, als Länder in der dritten Welt… und manchmal sogar schlechter. Ich finde, von einem Land wie Deutschland darf man erwarten, dass es anders – besser! – funktioniert.
C: Kommst du denn an sich mit der Beeinträchtigung an der Uni Köln gut zurecht oder müsste da was anders sein?
S: Sagen wir mal so: Dadurch, dass ich die Fakultät gewechselt habe, geht’s besser. In der Musikwissenschaft oder generell in der philosophischen Fakultät habe ich den Eindruck, dass man deutlich besser in der Lage ist, mit solchen Fällen umzugehen, als es die Naturwissenschaften sind. Die sind nämlich sehr eng in ihrem Studiengefüge – fast verschult möchte ich sagen. Da ist man einfach raus, sobald man irgendwo nicht die Vorgaben erfüllen konnte, sobald ein Praktikumstermin nicht wahrgenommen werden konnte… und gerade in der Chemie nehmen diese Laborpraktika eine immens hohe Zeit- und Arbeitsbelastung ein.
C: Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
S: Also, im Prinzip muss man sich das Studium so vorstellen: 8-12 Uhr morgens Vorlesungen und danach bis 18 Uhr durchgängig Laborpraktikum. Das ist schon für normal-gesunde Menschen sehr anstrengend. Gerade wenn es dann noch mit vorbereitenden Übungen verbunden ist, wie mündlichen Prüfungen, um überhaupt ins Labor zugelassen zu werden. Dann auch noch die Laborberichte täglich schreiben und abnicken lassen, die Wochenendergebnisse so aufbereiten, dass man die notwendigen Punkte in der vorgegebenen Zeit sammelt. Denn wenn es nicht reicht, wird man zur Klausur nicht zugelassen und darf im nächsten Jahr noch mal alles von vorne machen. Also, das ist schon unter normalen Bedingungen, meiner Meinung nach, schwer bis gar nicht machbar. Und wenn dann auch noch eine Beeinträchtigung dazukommt, egal welcher Natur, dann ist es unmöglich.
C: Das glaube ich dir.
S: Insofern muss ich wirklich sagen, an anderen Fakultäten sind die Umstände deutlich besser. Zumindest so, wie ich es an der philosophischen Fakultät kennengelernt habe, komme ich noch einigermaßen zurecht. Was aber auch eher an der Struktur der Studiengänge liegt, als an irgendwelchen Sonderkonditionen. Ich bin der Meinung, dass so ein Studium der Musikwissenschaft z.B. bereits von Anfang an so strukturiert ist, dass man es sich besser aufteilen kann. Also dass man auch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen darauf eingehen kann; und da rede ich noch nicht mal von Nachteilsausgleichen, sondern einfach nur von der normalen Zusammenstellung seines Stundenplans. Man ist einfach freier in der Selbstgestaltung und auch in der Selbstverantwortlichkeit. Das kann natürlich auch ein Nachteil sein, wenn man es in der Schule nie gelernt hat. Dann ist man erstmal überfordert. Aber in Fällen wie meinem ist das eher der bessere Weg.
C: Du hast es eben schon angesprochen. Nutzt du in irgendeiner Form Nachteilsausgleiche und wenn ja, was für welche?
S: Das, was ich in der Chemie mehr oder minder erfolglos versucht hatte, habe ich in der Musikwissenschaft bisher zweimal nutzen müssen. Und zwar ausschließlich dann, wenn es darum ging, Klausuren zu schreiben. Mit meiner Persönlichkeitsstörung hängt zusammen, dass ich unter großen Schwierigkeiten leide, in Stresssituationen klarzukommen und dass ich insbesondere in Klausuren in der Regel immer ein Blackout habe. In Klausuren bin ich immer schlechter als in allen anderen Prüfungsformen. Wenn ich in einer Hausarbeit eine 1 oder 2 schreiben würde, dann kann ich froh sein, wenn die Klausur grade so mit 3,3 bestanden ist oder mit 4.0. Das ist ein sehr großes Hindernis gewesen. Mitunter auch einer der Gründe, weshalb es in den Naturwissenschaften für mich unmöglich war. Da gibt es ja quasi ausschließlich nur die Klausur, um am Ende auf seine Punkte und seine Note zu kommen. Mit einem Schnitt von 4.5 möchte keiner ein Studium abschließen. Da nimmt einen auch kein Arbeitgeber.
Deswegen waren die Klausuren in meinem Fall die Punkte, wo ich dann auf den Nachteilsausgleich ausgewichen bin. Es ging dann darum, für mich längere Zeit rauszuholen und auch die Klausur in getrennte Teilprüfungen aufzusplitten. So konnte dann, wenn ich gemerkt habe „Oh, es geht nicht mehr, jetzt bin ich völlig weg.“, ein Teil der Klausur bewertet werden. Den restlichen Teil der Klausur konnte ich dann nachschreiben. Damit habe ich zumindest die Prüfungen bestanden und bessere Ergebnisse erzielt, als wenn ich die Klausur unter Normalbedingungen hätte schreiben müssen.
Komischerweise war das an der philosophischen Fakultät überhaupt kein Problem – ein Gespräch im Studierenden-Service-Centers, ein gemeinsames Gespräch mit dem Dozierenden und plötzlich war der Nachteilsausgleich in trockenen Tüchern. Was mich in der Chemie ganze 3 Semester Bitten, Flehen und Dauerbesuche beim Amtsarzt gekostet hat, war hier innerhalb von 2 Wochen erledigt.
C: Und wie ist das bei anderen Prüfungsformen?
S: Also, da habe ich die Erfahrung gemacht: Je selbstbestimmter ich in einer Prüfungsleistung sein kann, sei es jetzt in einer mündlichen Prüfung oder in einer Hausarbeit, oder sowas wie einem Praktikumsbericht, desto besser funktioniert es in der Regel, weil ich dann meine Kräfte selber viel besser einteilen kann. Wenn ich dann merke „Oh, hoppla, heute funktioniert’s nicht, warum auch immer“, kann ich sagen „Nicht so dramatisch – schreibe ich eben morgen weiter“. Auf diese Art und Weise bin ich doch ganz gut zurecht gekommen.
C: Und wie machst du das bei Lehrveranstaltungen, wenn du beeinträchtigungsbedingt zum Beispiel nicht teilnehmen kannst?
S: Es kommt immer auf die Dozierenden an, wie viel Erfahrung sie schon mit Nachteilsausgleichen oder generell mit Studierenden mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen gemacht haben. Und natürlich andererseits auch generell auf das Veranstaltungsformat. Wenn man sich nur einmal die Woche für 2 Stunden in ein Seminar reinsetzt, ist das noch deutlich besser planbar als, wenn es ein Blockseminar an einem Wochenende oder an 4 Tagen insgesamt ist. Da braucht nur ein Tag dabei zu sein, wo es mal nicht geht, die Arbeitsbelastung einen überwältigt, man es nicht aus dem Bett schafft, weil man wieder nicht geschlafen hat oder wieder ein depressiver Schub da ist… Dann ist das ganze Seminar gegessen.
Während es bei diesen wöchentlichen Veranstaltungen nicht so dramatisch ist, wenn man mal eine oder zwei Sitzungen verpasst. Man kann dann immer noch gut im Thema drinbleiben und muss sich nicht unbedingt offenbaren. Dann muss man nicht allen auf die Nase binden: „Ah, ich bin aber hier der Schwerbehinderte, der irgendwie mal wieder Sonderkonditionen braucht, um klarzukommen“.
Es ist auch irgendwie stigmatisierend, zu einem Dozierenden hinzugehen und wieder sagen zu müssen „Hier, äh, hören Sie mal, so wie Sie ihre Veranstaltung machen ist zwar schön und gut, aber das passt für mich nicht, jetzt machen Sie mal bitte irgendwas anderes für mich.“ Ich weiß nicht, aber damit macht man sich nicht unbedingt Freunde (lacht).
C: Wie finanzierst du dein Studium? Gehst du einem Nebenjob nach?
S: Ich muss es zweigeteilt machen. Ich kriege sowohl Bafög als auch Nebenfinanzierung durch eigene Arbeit. Ich habe früher vor allem sehr viel Nachhilfeunterricht gegeben – das ist dank Corona aber jetzt erst mal nicht mehr drin. Zum Glück gab es vor Kurzem die Möglichkeit, sich über den ASTA der Uni Köln zum Studiengang-Gutachter weiterbilden zu lassen. Das habe ich wahrgenommen und mich damit auch in den studentischen Akkreditierungspool aufnehmen lassen. Dadurch darf ich jetzt als Gutachter selber an andere Hochschulen gehen, um dort Studiengänge, für die ich Qualifikationen mitbringe, zu begutachten und zu akkreditieren. Das ist eine ganz gute Möglichkeit, nicht nur sich selber zu finanzieren, sondern auch etwas für die Verbesserung der Umstände und Lehrbedingungen zu tun. Das Bafög selber würde nur grade so ausreichen. Mit diesem Zusatzeinkommen kann ich meinen Lebensunterhalt momentan einigermaßen gut bestreiten.
C: Hast du mal Angebote der Uni Köln für Studierende mit Beeinträchtigung genutzt, und wenn ja, welche?
S: Also, ich habe früher sehr häufig die Hilfe des Studierenden-Service-Centers, insbesondere der Beratungsstelle für Studierende mit Beeinträchtigung, in Anspruch genommen. Damals als die Frau Martin noch im Büro saß. Mit ihr hatte ich einen relativ guten und konstruktiven Kontakt und auch immer eine gute Rückkopplung, wie ich mit anderen Dozierenden in Kontakt treten kann, wie ich dafür sorgen kann, dass mir der Nachteilsausgleich dann auch gewährt wird und zwar so, dass dieser einerseits auf mich und meine persönliche Beeinträchtigung zugeschnitten ist, aber andererseits nicht ein unrechtmäßig gewährter Vorteil entsteht. Das lief immer zielorientiert. Ansonsten habe ich natürlich auch recht häufig den psychosozialen Dienst in Anspruch genommen; gerade bei der Sozialberatung und psychologischen Beratung bin ich während meines Chemie-Studiums recht häufig gewesen. Jetzt momentan in der Musikwissenschaft aber recht selten; was meiner Meinung nach aber auch dafür spricht, dass es in der philosophischen Fakultät generell einfacher ist, mit einer Schwerbehinderung ein Studium zu absolvieren.
C: Sollte es deiner Meinung nach noch irgendwelche anderen Angebote für Studierende mit Beeinträchtigung geben, die es bislang noch nicht gibt?
S: Was meiner Meinung nach stark ausgebaut werden müsste, sind Finanzierungsmöglichkeiten für ein Studium, trotz, oder mit Schwerbehinderung oder chronischer Erkrankung. Ich weiß, da gibt es inzwischen mehr Fördermittel, als es noch vor 3 Jahren der Fall war. Aber sie sind meiner Meinung nach immer noch überschaubar. Und Informationen einzuholen, ist meistens eine reine Sisyphos-Arbeit. Auch müssten die institutionellen Förderungen viel sensibler für Fälle wie meinen werden. Denn anstatt zu fördern, sitzt mir das Bafög regelmäßig im Nacken und verlangt Leistungsnachweise und dass ich in einer gewissen Zeit fertig werde mit dem Studium. Ich verstehe ja, dass sie das Geld nicht aus dem Fenster rauswerfen wollen – das ist ja ihr gutes Recht. Nur liegt es doch auch in meinem eigenen Interesse, das Studium fertig zu machen. So ein zusätzlicher Zeitdruck ist da natürlich Gift bei meiner Vorbelastung, bei meiner Beeinträchtigung. Das ist genau das, was dafür sorgt, dass meine Erkrankung schlimmer und schwieriger wird.
C: Du hast ja mal erzählt, dass du einen Auslandsaufenthalt gemacht hast. Gibt es da Tipps, den du an andere Studierende weitergeben kannst?
S: Also, den allerersten Tipp, den ich geben würde ist, auf keinen Fall nach Belgien zu gehen – das ist blanker Selbstmord. Egal, ob man schwerbehindert ist oder nicht. Der zweite Tipp: Auf jeden Fall eine Auslandskrankenversicherung abschließen, egal ob man in der EU oder außerhalb verreist. In meinem Fall war es so, dass das Auslandsbafög sich 6 Monate Zeit gelassen hat, bewilligt zu werden. Ich musste mich also in Belgien mit meinen Nebenjob über Wasser halten, mich irgendwie finanzieren; und das Ersparte, was ich bis dahin hatte, aufbrauchen, bevor dann endlich der Riesenbatzen Geld auf einmal auf meinem Konto ankam. Nur damit dann das Bafög-Amt in Köln wieder gesagt hat: „Ja, hoppla, Sie haben doch so viel Geld, warum sollen wir denn jetzt zahlen?“.
Das Problem damit war: Dadurch, dass ich mich selber finanzieren musste, hat das Arbeitsamt hier in Deutschland gesagt: „Ja, der hat zwar eine Schwerbehinderung, aber der kann ja arbeiten, immerhin is er im Ausland. Also müssen wir ihn versicherungstechnisch neu einstufen“. Dadurch habe ich meinen Versichertenschutz verloren und stand plötzlich in einem fremden Land ohne Krankenversicherung da. Ganz toll! Hätte ich jetzt keine Auslandskrankenversicherung gehabt, wäre ich auf einmal völlig schutzlos ausgeliefert gewesen. Das hätte ganz böse ausgehen können.
C: Hast du weitere Tipps?
S: Ja, so schnell wie möglich mit den Stellen vor Ort Kontakt aufnehmen und sie darauf hinweisen, dass man selbst schwerbehindert ist und dass man bestimmte Bedingungen zu erfüllen hat. In meinem Fall hieß das zum Beispiel, dass ich mit dem Pkw anreisen kann. Das war an der Universität in Gent. Ich durfte als Nachteilsausgleich auf deren Gelände parken, da es sonst keine gebührenfreien Parkplätze in der Stadt gab. Dadurch konnte ich mobil sein, um in meinem Alltag entsprechend agieren zu können: Einkäufe machen, oder zurück zu meinen Eltern reisen, wenn ich Betreuung gebraucht habe. So konnte ich flexibel unterwegs sein und mein Studium so gestalten, dass es mir zumindest ein bisschen was gebracht hat. Dann auch so Dinge wie, dass ich in Prüfungen Nachteilsausgleiche geltend machen konnte. Das hat als einziges gut funktioniert.
C: Oh, was hat denn alles nicht geklappt?
S: Das Wohnheim hatte plötzlich doch kein Zimmer mehr für mich, das meinen Bedürfnissen gerecht wurde und ich sollte mir nun selber was suchen. Da hatte ich nur noch einen Monat Zeit, bevor es losgehen sollte. Ich musste mir also panisch vor Ort eine Wohnung suchen und habe sie auch nicht mehr vorher besichtigen können, sondern einfach nur das bestmögliche genommen, was da war. Und von da an hat das Drama erst seinen Lauf genommen. 2 Wochen, nachdem ich dort angekommen war, haben sie angefangen das Nachbarhaus grundzusanieren. Also von morgens 6 Uhr bis abends 20 Uhr Gedröhne von Schlagbohrmaschinen, Kreissägen, Hämmern usw. An Ruhe war nicht mehr zu denken – toll für jemanden mit einer Schwerbehinderung, der es sowieso schon schwer hat, Energie zu regenerieren und deutlich mehr Zeit braucht, um wieder zu Kräften zu kommen.
C: Ohje.
S: Zusätzlich war die Universität in Belgien zu blöd, zu wissen, ob eines ihrer eigenen Gebäude abgerissen wird oder nicht. Am ersten Tag, als ich meine Vorlesungen hätte antreten wollen, kam ich bei der richtigen Adresse an und sah eine riesige Bauruine, ein offenes Loch im Gelände. Ich habe erst im Nachhinein herausgefunden, dass das Gebäude selber komplett abgerissen worden ist. 1 Woche später hat auch unser Professor dann eine Rundmail geschrieben. In der stand, dass man vergessen habe, dass das Gebäude nicht mehr existiert und wegen Abrisses nun die ursprünglich darin vorgesehenen Vorlesungen nicht mehr stattfinden könnten. Alle Lehrveranstaltungen, für die ich mich angemeldet hatte, wurden also restlos gestrichen. Ich musste mir panisch irgendwas zusammensuchen, um wenigstens ein paar Punkte zu kriegen. Das hat im Nachhinein übrigens nicht funktioniert, denn die Uni Köln hat gesagt: „Ja, hoppla, die Veranstaltungen, die sie besucht haben, sind nicht die Veranstaltungen, die sie damals angemeldet haben. Wir können Ihnen deshalb die Punkte nicht anrechnen – ihr Auslandssemester war leider umsonst“.
C: Das ist echt ärgerlich, oder?
S: Tja. Belgien ist was für Suizidgefährdete – die kommen garantiert auch nicht mehr zurück. Eigentlich hätte das mit der Wohnung mir schon Warnung genug sein sollen, es sausen zu lassen, Belgien hat letztendlich dadurch, dass sich mein Gesundheitszustand dort und in den Monaten danach so sehr verschlechtert hat, mein Studium um über 2 Jahre verlängert.
Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern läuft – man hört ja immer wieder, die EU wäre sehr darauf bedacht, den Inklusionsgedanken hochzuhalten und gerade auch für Personen mit Schwerbehinderung Sonderkonditionen zu schaffen. Ich glaube ehrlich gesagt nach meinen Erfahrungen nicht mehr dran. Ich halte das für eine riesengroße ideologische Lüge und ein Märchen, das sich in der Realität nicht bewahrheitet.
C: Was sind Tipps, die du generell Studierenden mit Beeinträchtigung mitgeben würdest?
S: So früh wie möglich, im Idealfall sogar noch vor Antritt des Studiums, bereits mit den entsprechenden Hilfestellen Kontakt aufnehmen. Schauen, ob das vor Ort überhaupt passt, ob die Uni wirklich so fähig ist, wie sie sich nach außen hin geben oder es alles nur Augenwischerei ist. Sei es jetzt der psychosoziale Dienst oder das Studierenden-Servicecenter, wie bei uns an der Universität Köln; dass einfach die Berater vor Ort bereits wissen, womit sie es zu tun haben und wie sie damit umgehen können. Damit man auch selbst, als Studierender dann frühzeitig die entsprechenden Informationen kriegt und sich nicht erst während des Studiums zusammensuchen muss, um dann am Ende an Hindernissen zu scheitern wie ich damals in den Naturwissenschaften, wo sie mir dann sogar an den Kopf geworfen haben: „Ja, sorry, aber dieses Studienfach ist nicht darauf ausgelegt, es halbtags zu studieren. Also entweder machen sie das Laborpraktikum hier 3 Monate am Stück jeden Tag, oder aber das wird nix mit dem Chemie-Studium.“ Da hatte ich schon 3 Semester studiert und die Zeit hätte ich mir auch sparen können. Also, je früher man sich selber informiert und auch die Initiative ergreift, desto besser. Und nicht davor zurückschrecken, auch „Nein“ zu sagen. Denn nichts schmerzt mehr, als aus Hoffnung und Glauben an das Gute im Menschen Jahre seines Lebens für einen Kampf geopfert zu haben, der in Wahrheit von vorneherein aussichtslos war, oder am Ende sogar irgendwo zu landen, wo man nie hin wollte.